Am Freitag, den 18. September 2015, einen Tag nach Eröffnung der 66. Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt am Main, titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Verstoß gegen Umweltauflagen: Volkswagen muss fast 500.000 Autos zurückrufen«. Der Konzern habe gegen Abgasvorgaben der US-Umweltbehörde EPA verstoßen, indem er »eine spezielle Software eingesetzt [habe], um die Messung des Schadstoffausstoßes absichtlich zu manipulieren«. Das könne »eine Strafe von bis zu 18 Milliarden Dollar nach sich ziehen«. Und der Spiegel ergänzte einen Tag später: »Durch das Programm soll es möglich sein, das Abgas-Kontrollsystem nur bei offiziellen Emissionstests zu aktivieren. Das würde bedeuten, dass die Luftverpestung in Wirklichkeit viel höher wäre.«
Damit war einer der größten Skandale der deutschen Wirtschaftsgeschichte an die Öffentlichkeit gelangt. Er beschäftigt seitdem nicht nur die internationale Presse und den Wolfsburger Automobilkonzern selbst, sondern auch diverse Verbraucher- und Umweltschutzverbände, die Politik und schließlich die Gerichte bis in die Zukunft hinein. Die unter dem Namen Abgas- oder Dieselskandal bekannt gewordenen Vorfälle waren schnell zu dem Symbol geworden für verantwortungslose Unternehmensführung, zum Symbol für den Betrug am Kunden und für den rücksichtslosen Umgang der Konzernlenker mit der Umwelt und den Interessen der Allgemeinheit. Aber sie waren auch zum Symbol geworden für ein zu lasches Durchgreifen der Politik, für ein Unter-einer-Decke-Stecken der gewählten Volksvertreter mit »der Wirtschaft«, für Klüngelei und Lobbyismus und für die fehlende Ethik und Moral in unserem Wirtschaftssystem. Wir werden darauf später noch zurückkommen.
Fast genau ein Jahr später, am 16. September 2016, berichtete die Süddeutsche Zeitung unter der Schlagzeile »US-Regierung fordert Rekordbuße von der Deutschen Bank« davon, dass Washington das Finanzinstitut »wegen Tricksereien auf dem amerikanischen Immobilienmarkt« zu einer Strafzahlung von sage und schreibe 14 Milliarden US-Dollar verklagen wolle. Der Bank würden »windige Geschäfte am Markt für mit Hypotheken besicherte Wertpapiere vorgeworfen, die zum Kollaps des US-Häusermarktes im Jahr 2008« beigetragen hätten. Über Jahre hinweg hätte das Geldhaus, wie mehrere andere Großbanken auch, hohe Gewinne erzielt, indem sie Immobilienkredite an eigentlich mittellose Familien vergeben und die Risiken aus diesen Geschäften anschließend in Form von hochkomplexen Derivaten an Investoren weitergereicht hätten. Als der Markt im Sommer 2007 schließlich zusammenbrach, hätten sich diese Bonds als wertlos erwiesen. Damit habe die Deutsche Bank entscheidend zur globalen Banken- und Finanzkrise beigetragen, in deren Verlauf Großbanken wie Lehman Brothers Insolvenz anmelden mussten und Milliarden an Staatsgeldern auf der ganzen Welt in die Hand genommen werden mussten, um die Branche zu stützen und die Weltwirtschaft nicht vollends in den Abgrund zu reißen.
In der Folge wurden immer neue Skandale der Finanzbranche bekannt – und die Deutsche Bank war stets mittendrin. Der Ruf litt erheblich. Die Banken galten fortan als Inbegriff des Raubtierkapitalismus. Es wurden Forderungen laut, die »Casinos« endgültig zu schließen und den ruchlosen Investmentbankern das Handwerk zu legen. Die Banken sollten verstaatlicht werden und wurden es teilweise auch; die Öffentlichkeit rief danach, strengere Regularien für den Finanzmarkt einzuführen, was aber bis heute kaum geschah. Insbesondere die hohen Boni, die die Banken ihren führenden Mitarbeitern weiterhin gewährten, während sie ihre Kunden ausnahmen und ins Verderben stürzten, riefen laute Kritik hervor. Als im Januar 2018 bekannt wurde, dass die Deutsche Bank trotz Verlusten Boni von über eine Milliarde Euro ausschütten wolle, ließ der Tadel an dieser »Boni-Orgie«, wie es das Manager-Magazin nannte, nicht lange auf sich warten. Der hessische SPD-Vorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel etwa sagte: »Millionen-Boni trotz Verlusten widersprechen jeglichem Gerechtigkeitsempfinden. Einerseits Arbeitsplatzabbau, andererseits goldene Nasen in der Führungsetage – das kann man niemandem erklären.« Und SPD-Chef Martin Schulz ergänzte: »Überall schließen Bankfilialen, Kunden verlieren ihre Berater, Berater ihre Jobs. Wenn in dieser Situation Boni in Höhe von einer Milliarde Euro ausgeschüttet werden, dann verliert ein Unternehmen nicht nur an Ansehen. Das schadet insgesamt unserer Solidargemeinschaft.« Tatsächlich unmoralisches Handeln oder lediglich business as usual? Auch auf die Geschäftstätigkeit der Deutschen Bank werden wir noch zurückkommen.
Am 23. Mai 2016 schrieb die Wochenzeitung Die Zeit, dass der Leverkusener Chemie- und Pharmakonzern Bayer den umstrittenen US-Saatguthersteller Monsanto für 62 Milliarden Dollar übernehmen wolle. Das Unternehmen wolle »durch die Übernahme von Monsanto ein weltweit führendes Unternehmen der Agrarwirtschaft werden«, wie es in der entsprechenden Pressemitteilung hieß. Demnach biete die Übernahme »eine überzeugende Gelegenheit für Bayer, ein weltweit führendes Unternehmen für Saatgut, Pflanzeneigenschaften und Pflanzenschutz zu schaffen«. Gleichzeitig würde Bayer »als Life-Science-Unternehmen mit einer gefestigten Position in einer langfristigen Wachstumsbranche gestärkt«.
Aus unternehmerischer Sicht mag die Übernahme, die bis Anfang 2018 noch immer nicht endgültig vollzogen war, möglicherweise sinnvoll erscheinen. Aus moralischer Sicht haben allerdings viele ein Problem damit. Denn Monsanto gilt insbesondere unter Umweltschützern als der Inbegriff des skrupellosen Unternehmens. Der Konzern aus St. Louis, Missouri, ist nicht nur der größte Hersteller des äußerst umstrittenen, unter Krebsverdacht stehenden und in großen Mengen eingesetzten Breitbandherbizids Glyphosat, das er unter dem Markennamen »Roundup« vertreibt. Das Unternehmen besitze seinen Kritikern zur Folge darüber hinaus auch eine Fast-Monopolstellung bei genverändertem Saatgut. In Kombination mit Roundup, gegen das dieses Saatgut immun ist, würden sich viele Bauern abhängig machen von den Produkten der Firma. Vor allem in Entwicklungsländern treibe das viele Kleinbauern in den Ruin. Auch das übrige Geschäftsgebaren wird kritisiert, die massive Lobbyarbeit etwa, die politische Einflussnahme und Verstrickung in die Politik, vor allem in Dritte-Welt-Ländern, oder auch die Patente auf Saatgut, die laut Greenpeace dazu führen könnten, dass Bauern Lizenzgebühren an Monsanto zahlen müssten. Die Umweltschutzorganisation nennt die Firmengeschichte »eine Skandalchronik, atemberaubend lang«.
Die Welt scheint im Hass auf Monsanto zusammenzustehen. Im Mai 2016 protestierten Menschen in 400 Städten auf dem gesamten Globus gegen den Konzern. Auf Plakaten war unter anderem zu lesen Mon$anto is making us $ick (»Monsanto macht uns krank«), wobei das S im Firmennamen durch ein Dollar-Zeichen ersetzt war. Die Spitznamen des Unternehmens lauten »Mon-Satan« oder schlimmer.
Der Naturschutzbund (NABU) verlieh, nachdem die Übernahme-pläne bekannt geworden waren, Bayer-Chef Werner Baumann den Negativ-Umweltpreis Dinosaurier des Jahres 2016. In der Begründung hieß es:
Diese Strategie des »alles aus einer Hand« mit aufeinander abgestimmten Saatgut und Pestiziden treibt aber nicht nur die Bäuerinnen und Bauern zunehmend in die Abhängigkeit, sie forciert eine Intensiv-Landwirtschaft, die als Hauptverursacher des globalen Verlustes von Biodiversität gilt. »Der massive Einsatz von Pestiziden führt weltweit zu einem Rückgang von Insekten, darunter auch nützliche Bestäuber wie Wildbienen oder Schmetterlinge, entzieht Vögeln der Agrarlandschaft die Lebensgrundlage und vergiftet aquatisch gebundene Lebewesen«, so [NABU-Präsident] Tschimpke. Damit würden mit der Fusion auch die von den Vereinten Nationen beschlossenen Nachhaltigkeitsziele torpediert, die einen Bezug zur Biodiversität aufweisen.
Ist die Öffentlichkeit also berechtigt, Kritik zu üben, Kritik an einem wohlgemerkt privaten Unternehmen, nur weil diese Öffentlichkeit das Handeln des Unternehmens für moralisch verwerflich hält? Ist die Übernahme von Monsanto durch Bayer verantwortungslos? Oder kommt der Konzern nicht vielmehr gerade seiner Verantwortung nach, wenn er lediglich seine ureigenen Interessen nach Wirtschaftlichkeit und Profitmaximierung verfolgt, um damit im Sinne von shareholder value die Bedürfnisse seiner Anteilseigner zu befriedigen?
Ein letztes Beispiel: Im November 2017 kündigte der Münchner Technologie-Konzern Siemens an, in den nächsten Jahren bis zu 7.000 Stellen abbauen zu wollen, davon die Hälfte in Deutschland. Die Streichung betreffe vor allem die Kraftwerksparte. Die Turbinenwerke in Leipzig und Görlitz sollten komplett geschlossen werden, auch der Standort Offenbach stehe zur Disposition. Grund sei, dass der Konzern von seinen großen Gasturbinen immer weniger verkaufe; der Preisverfall habe in diesem Geschäftsfeld zu erheblichen Überkapazitäten geführt, weshalb man sich zu diesem Schritt gezwungen sehe.
Der zu erwartende Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten. Die Gewerkschaften protestierten lautstark. In Görlitz, wo in einer als strukturschwach geltenden Region 900 Stellen wegfallen sollen und wo Siemens als einer der größten Arbeitgeber gilt, war das Entsetzen besonders groß: An einer Großdemonstration nahmen mehr als 7.000 Menschen teil, selbst der Bischof meldete sich an Weihnachten zu Wort und forderte die »Eindämmung rein kapitalistischen Denkens«.
Der Focus stellte darüber hinaus die provokante und vorwurfsvolle Frage: »Stellenabbau trotz Subventionen?« und verwies darauf, dass Siemens in den vergangenen zehn Jahren Subventionen aus dem Bundeshaushalt in Höhe von über 300 Millionen Euro erhalten habe, 35 Millionen davon seien direkt in die nun von der Schließung betroffenen Werke geflossen.
Was die Kritiker vor allem ärgerte war, dass es Siemens keineswegs schlecht ging. Der Konzerngewinn nach Steuern im abgelaufenen Geschäftsjahr 2017 lag bei 6,179 Milliarden Euro, eine nochmalige deutliche Steigerung gegenüber dem Vorjahr, in dem der Gewinn bei 5,584 Milliarden Euro gelegen hatte.
Wie konnten sich die Münchner angesichts eines solchen Jahresergebnisses also erdreisten, Stellen abzubauen? Wo war die Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern, wo war die Verantwortung gegenüber den Regionen, in denen die Menschen nun schon bald auf der Straße stehen sollten? Oder zeigte der Konzern nicht sogar gerade deswegen Verantwortung, weil er den künftigen Erfolg im Auge behielt und die weniger profitablen Geschäftsfelder nach und nach abzubauen gedachte? Sollte der Konzernvorstand nicht am besten wissen, was für das Unternehmen am vorteilhaftesten ist?
Nun, diese vier Fälle – Volkswagen, Deutsche Bank, Bayer und Siemens – zeigen sehr gut, auf welche Art und Weise deutsche Großkonzerne in den vergangenen Jahren in Skandale verstrickt waren, welcher Kritik sie sich ausgesetzt sehen mussten und inwiefern sie möglicherweise ihren Verpflichtungen in Bezug auf ihre Mitarbeiter, auf die Umwelt und auf die Gesellschaft nicht oder nur ungenügend nachgekommen sind. Im Übrigen ist die Liste keineswegs abschließend; sie ließe sich mehr oder weniger beliebig fortsetzen.
Die Frage aber, die angesichts all dieser Vorfälle in den Blickpunkt gerät – und sie ist überall dieselbe –, ist: Haben die Unternehmen etwa keine Verantwortung mehr? Haben sie keine Verantwortung mehr gegenüber ihren Mitarbeitern, gegenüber der Umwelt, gegenüber der Gesellschaft? Wo bleibt das Mäzenatentum, wo bleibt der fürsorgliche Unternehmer alter Schule, wo bleibt – sofern es sie jemals gegeben hat – die Philanthropie? Haben moderne Wirtschaftsunternehmen nur noch auf rücksichtlos agierende Art und Weise ihren eigenen Vorteil im Sinn? Haben sie nur noch das Ziel vor Augen, die Vorstandsgehälter immer weiter nach oben zu treiben, immer höhere Gewinne zu erwirtschaften, koste es, was es wolle? Wo bleiben in diesem Zusammenhang der Anstand und die Moral, wo bleibt die Ethik? Hat sie etwa in der heutigen globalisierten Wirtschaftswelt nichts verloren?
[...]
In all diesen Fällen wird von der Öffentlichkeit, von den Medien und auch von der Politik ein massiver Druck auf die Unternehmen ausgeübt, um sie zu einem Umdenken zu bewegen und sie zu einer Wiedergutmachung zu zwingen. Angesichts des drohenden Imageverlustes willigen die meisten von ihnen auch ein: Auffanggesellschaften für von Arbeitslosigkeit bedrohte Mitarbeiter werden gegründet, Abfindungen und Entschädigungen gezahlt, oder es wird gar auf Vorstandsbezüge verzichtet, um ein Zeichen der Wiedergutmachung zu setzen.
Doch mit welchem Recht mischen sich Politik, Medien und die Öffentlichkeit eigentlich in die Autonomie von privaten Unternehmen ein? Haben wir ihnen denn überhaupt etwas vorzuschreiben? Oder haben sie nicht vielmehr das Recht dazu, so zu handeln, wie es ihnen beliebt, und wie sie es für richtig halten – solange sie nicht gerade gegen Recht und Gesetz verstoßen?
Nun, die Antwort auf diese Frage ist eigentlich recht einfach: Immer dann, wenn Dritte betroffen sind, und immer dann, wenn das öffentliche Unrechtsbewusstsein einen Angriff auf Moral und Ethik wahrnimmt, immer dann wird der Ruf laut nach der Übernahme von sozialer und ökologischer Verantwortung.
In Zeiten der Globalisierung, in denen international agierende Konzerne sich des Einflussbereiches nationaler Regierungen entziehen können, in denen ein immer unerbittlicher werdender Wettbewerb die Unternehmen zu immer größerer Kostenre-duzierung und Gewinnmaximierung zwingt, um langfristig überleben zu können, in denen sich die Arbeitnehmer aus Angst um ihren Arbeitsplatz der Willkür ihrer Arbeitgeber ausgesetzt fühlen, in diesen Zeiten steigt die Sensibilität für Moral und der Wunsch nach verbindlichen ethischen Standards...
[Auszug aus: Oliver M. Herchen: Corporate Social Responsibility (2018), S. 15 - 22, Quellen-angaben zu den Sachverhalten und Zitaten dort]
OH Jan/2024
Ausschnitt aus Buchcover von CSR (Bildnachweis)