#Plastikmeere


Toter Albatros mit Plastikmüll im Magen

Wie wir die Ozeane mit unserem Kunststoffmüll schädigen

Auszug aus meinem Buch "Des Menschen Erde"

Die denkwürdige Plastikenten-Geschichte ist schnell erzählt: Als im Jahr 1992 ein chinesisches Containerschiff im westlichen Pazifik in Seenot geriet, ging die Ladung über Bord. Inhalt: 29.000 Plastikenten. Die Enten gelangten ins Meer und gingen auf eine lange Reise, welche vermutlich für einige von ihnen auch heute noch nicht zu Ende ist. Zunächst landeten sie an der nordamerikanischen Westküste, im US-Bundesstaat Washington, in Alaska, ja selbst auf den fernen Hawaii-Inseln. Einige gelangten aber auch über die Beringstraße ins Nordpolarmeer, wo sie im Eis einfroren und irgendwann von ihm im Nordatlantik wieder ausgespuckt wurden. Schließlich fand man sie auch in Schottland und im US-Bundesstaat Maine. So kam es, dass sich die süßen kleinen, gelben Plastikenten mithilfe der Meeresströmungen auf dem halben Erdball ausgebreitet hatten.

 

Der Siegeszug der Kunststoffproduktion begann nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem es zahlreiche Erfolge auf dem Gebiet der Polymerchemie gegeben hatte. Durch die Entwicklung der Thermoplaste und besonderer Verarbeitungsverfahren konnten Formteile nun auf unschlagbar günstige Weise hergestellt werden. Kunststoff wurde durch industrielle Massenfertigung zu einem Allerweltsprodukt. Nach Angaben des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) werden heute per annum etwa zweihundertvierzig Millionen Tonnen Kunststoffe hergestellt. Davon gelangen jedes Jahr etwa 6,4 Millionen Tonnen ins Meer, andere Schätzungen gehen sogar von acht Millionen Tonnen aus.

 

Die Quellen, aus denen der Kunststoff im Meer stammt, sind unterschiedlichster Art. Bis zu zehn Prozent sind verloren gegangene Fischereiausrüstung, vor allem Netze und ähnliches. Viele Schiffe entsorgen ihren Plastikmüll auch immer noch – trotz internationalem Verbot – illegal in die See. Ein Teil stammt auch von der Offshore-Industrie, also von Öl- und Gasplattformen oder aus Aquakulturen. Doch der allergrößte Teil, vermutlich mehr als achtzig Prozent, kommt vom Land, von verdreckten Stränden, von wassernahen Müllkippen, von Hafenanlagen, von den Strandpromenaden feiernder Millionenstädte oder über den Zufluss von Flüssen, Bächen und Abwasserkanälen. Gut die Hälfte dürfte dabei allein in China, Indien, Indonesien, Thailand, Vietnam und den Philippinen seinen Ursprung haben.[iii] Und wer gesehen hat, welche ungeheuren Müllmengen der Tsunami vom März 2011 in Japan vor sich her getrieben hat, der weiß, dass auch solche Naturkatastrophen dazu beitragen können, den Abfall, den der Mensch produziert, in das Meer zu spülen.

 

Wie viel Müll und Plastik heute insgesamt im Meer enthalten ist, ist umstritten, aber es ist viel, sehr viel. Denn Kunststoff wird ja bekanntlich deswegen so gerne weggeworfen, weil die aus ihm hergestellten Produkte meist nicht lange halten. Sie werden irgendwann brüchig und gehen kaputt, so dass man sie nicht mehr gebrauchen kann. Oder aber sie sind, wie die zahlreichen Plastikverpackungen, sogar nur für den einmaligen Gebrauch bestimmt. Folien, Plastiktüten, Joghurtbecher, Käse- und Wurstverpackungen, Einwegflaschen und vieles andere mehr – alles Wegwerfprodukte! Und dass sie, wie in Deutschland, mittels gelbem Sack und grünem Punkt getrennt gesammelt und (überwiegend) einer Wiederverwertung zugeführt werden, ist international gesehen eher die exotische Ausnahme.

 

Das Paradoxe dabei ist: Dieser sehr kurzen Lebensdauer des Kunststoffprodukts steht eine unglaublich lange Lebensdauer des Materials selbst gegenüber! Das ins Meer geratene Plastik ist nämlich nahezu unvergänglich; es zersetzt sich nur sehr langsam über Jahrzehnte, manchmal erst über Jahrhunderte. Und im Laufe dieser langen Zeit zerfällt es – unter dem Einfluss der Wellenbewegung und des UV-Lichts der Sonne – in immer kleinere Stücke. Teilweise wurden bei Müllsammelaktionen an Stränden bis zu hundertfünfzigtausend klitzekleine Plastikstücke pro Meter (!) Strand gefunden. Hinzu kommt noch das bei zahlreichen Schiffstransporten verloren gegangene Kunststoff-Rohmaterial, das so genannte »Granulat«, das erst noch zu Fertigprodukten geformt werden sollte, aber nie in der Produktionsstätte ankam. In Neuseeland wurden auf einem einzigen Küstenmeter dreihunderttausend dieser winzigen Plastikteile gefunden. Für die Meeresbewohner sind sie genauso gefährlich wie jene winzigen Mikroplastik-Kügelchen, die die Kosmetik-Industrie gerne ihren Peeling-Duschgels und anderen »innovativen« Körperpflege-Produkten beimischt. Alleine in Deutschland werden laut Umweltbundesamt jedes Jahr über fünfhundert Tonnen dieser »Microbeads« eingesetzt. Auch Fleece-Stoffe hinterlassen bei jedem Waschgang tausende von Plastikfasern. Diese kleinen Kunststoffteile sind von keinem Klärwerk der Welt wieder aus dem Dusch- oder Waschwasser herausfiltern – und landen folglich in den Ozeanen. Dass gegen diese Praxis nicht schon seit Langem entschieden vorgegangen und den Herstellern Einhalt geboten wird, ist eigentlich ein Skandal.

 

Doch nicht nur die kleinen, auch die größeren Teile an Kunststoff und Verpackungsmüll landen im Meer. Von den Meeresströmungen umher getrieben, geraten sie früher oder später in die großen subtropischen Ozeanwirbel. Von ihnen gibt es fünf an der Zahl: Einen im nördlichen und einen im südlichen Atlantik, einen im Indischen Ozean sowie einen im nördlichen und einen im südlichen Pazifik. Diese gigantischen Wirbel verlieren mit jedem Umlauf etwa die Hälfte ihres Treibguts – es wird nach außen fort getrieben. Die andere Hälfte aber sammelt sich in ihrem Zentrum und hat es schwer, dort wieder heraus zu kommen. Dadurch entstehen im Innern der Meereswirbel Müllansammlungen, die riesige Ausmaße annehmen können. So trägt etwa der Nordpazifikwirbel mittlerweile schon den wenig schmeichelhaften Beinamen »Great Pacific Garbage Patch« – zu Deutsch: »Großer Pazifikmüllfleck«. Er bedeckt mit geschätzten siebenhunderttausend Quadratkilometern eine Fläche doppelt so groß wie die von Deutschland; anderen Quellen zufolge soll er sogar so groß sein wie ganz Westeuropa. Geht man nach dem Gewicht, ist dort mittlerweile wahrscheinlich sechsmal mehr Plastik im Oberflächenwasser vorhanden als Zooplankton!

 

Der übrige Müll, der nicht in den »Augen« der großen Ozeanwirbel gefangen ist, wird meist irgendwo auf der Welt an den Strand gespült. Im Mittelmeer kann man teilweise auf hundert Metern Strand bis zu tausendachthundert größere und kleinere Gegenstände finden und in anderen Teilen der Welt sieht es nicht viel anders aus. Kunststoffe haben daran den weitaus größten Anteil; er liegt in der Regel zwischen fünfzig und neunzig Prozent.

 

Dabei könnte man ja eigentlich annehmen, dass Plastik schwimmt und man ihn daher relativ leicht wieder aus dem Wasser herausfischen kann. Aber das stimmt nicht. Fünfzig bis siebzig Prozent des Kunststoffs haben eine größere Dichte als Wasser und sinken deswegen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in Richtung Meeresgrund hinab. Das bedeutet aber auch, dass der Müll, den wir in den Meeren sehen, nur ein geringer Teil von dem ist, was wirklich vorhanden ist. Wie viel sich tatsächlich in den tieferen Wasserschichten und am Meeresboden angesammelt hat und weiter ansammelt, können wir nur vermuten.

 

Plastiktüten und sonstiger Müll verstopfen häufig Fischernetze, Schiffsschrauben, Forschungsinstrumente oder anderes Gerät. Dabei entstehen teils erhebliche Sach- und wirtschaftliche Schäden. Für die Meeresbewohner jedoch sind die Gefahren ungleich größer. Die in ihren Lebensraum geratenen Gegenstände sind für sie lebensbedrohlich. Da Kunststoffe nämlich für die Tiere etwas völlig Fremdes sind, werden sie oft für Nahrung gehalten: Kleine Plastikstücke sehen aus wie Fisch, Plastiktüten wie Quallen. Die Bilder von Schildkröten- und Seevogelkadavern, in deren Mägen dutzende von Plastikstücken enthalten sind, angefangen von Flaschendeckeln bis hin zu Zahnbürsten und Feuerzeugen, sprechen Bände. Wenn die Tiere daran nicht direkt sterben, verhungern sie schlicht und ergreifend, weil sie nicht mehr genug Nahrung aufnehmen können. Selbst wenn die Tiere es überleben, hat es nicht nur Auswirkungen auf ihre Verdauung, sondern auch auf ihre Fortpflanzung, insbesondere auf diejenige von Muscheln und Krebsen. Auch Vögel sind gefährdet. Eine niederländische Studie fand in neunzig (!) Prozent aller untersuchten Seevögel Plastikteile. In einer anderen Studie wurden immerhin in jedem dritten sich von Plankton ernährenden Pazifikfisch Kunststoffteile gefunden. Auch jeder zweite Magen einer Meeresschildkröte enthält inzwischen Plastik. Die Partikel wirken dabei wie ein Schwamm, der durch seine große Oberfläche langlebige organische Schadstoffe wie DDT, Quecksilber oder PCB aufsaugt. Auch können die Kunststoffe bei ihrer Zersetzung selbst wieder giftige Schadstoffe wie Weichmacher an ihre Umwelt abgeben.

 

Über die Nahrungsketten gelangen dann nicht nur die unzähligen winzigen Kunststoffteilchen, sondern auch die in ihnen enthaltenen Umweltgifte von den kleineren zu den größeren Tieren, sammeln sich in ihnen und landen schließlich ganz oben in der höchsten Trophieebene. Und wer steht dort? Erinnern wir uns: Bis zu neunzig Prozent aller Meeresbewohner landen irgendwann einmal in einem Fischernetz und damit – in unseren Mägen. Wie viele winzige Plastikteile also wohl unser geliebter Lachs oder Thunfisch enthalten mag, der uns so schmackhaft von unserem Teller anlächelt? Wir wissen es nicht. Genauso wenig, wie groß die Gesundheitsgefahren sind, denen wir uns dadurch aussetzen.

 

Doch gehen wir noch einen Schritt zurück. Noch bevor die maritimen Lebewesen auf unserem Esstisch landen, können sie sich durch die vielen Müllmaterialien im Meer auch schwerwiegende Verletzungen zufügen. Kunststoffe sind oft spitz und scharfkantig, vor allem wenn sie zerbrochen sind; dasselbe gilt für Blechdosen. Darum sind Schnitt- und Stichwunden keine Seltenheit; auch innere Verletzungen sind möglich, wenn die Tiere das Zeug fressen. Außerdem kommt es häufig vor, dass sich Fische, Seevögel oder Schildkröten in Fischernetzen, Leinen oder größeren Holz- und Kunststoffteilen so sehr verfangen, dass sie nicht mehr alleine frei kommen. Wenn ihnen dann keiner hilft, verhungern sie elendiglich oder sterben vor Erschöpfung. Oder sie ertrinken, sofern sie Meeressäuger sind. Auch gibt es herzzerreißende Bilder, auf denen junge Robben zu sehen sind, die ihren Kopf einmal in ein Kunststoffnetz oder ein Verpackungsband gesteckt haben und es dann lange mit sich herumtragen. Werden sie größer, wächst sich der Ring aus Kunststoff zunächst in die Haut der Tiere ein, bevor er ihnen langsam aber sicher die Kehle durchschneidet. Passiert dasselbe bei Schildkröten, dann kann sich ihr Panzer nicht normal entwickeln und es entstehen Missbildungen, die ihnen ein Leben lang Schmerzen zufügen.

 

Jeder mitfühlende Mensch und Tierfreund muss sich dabei die Frage stellen: Können wir solche Grausamkeiten denn wirklich zulassen? Müssen wir nicht etwas dagegen unternehmen? Und was lässt sich überhaupt tun gegen die unsäglichen Massen an Müll im Meer? Können wir ihn vielleicht herausfiltern, wie es eine niederländische Initiative mit dem Namen »The Ocean Cleanup«[viii] vorsieht? Herausfiltern mithilfe eines riesigen, weit geöffneten »V«, einer schwimmenden Barriere, die hundert Kilometer lang ist und den Müll zu einer Sammelstelle leitet, wo er von Schiffen eingesammelt wird? Möglicherweise. Möglicherweise aber auch nicht. Bislang ist dies nämlich lediglich die Vision eines Enthusiasten, einen Versuch aber sicher wert. Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen, die technischen Schwierigkeiten mit einer Verankerung am Meeresgrund in mehreren Kilometern Tiefe erscheinen noch groß. Ob das System tatsächlich in absehbarer Zeit einsatzfähig ist, bleibt abzuwarten. Aber selbst wenn es funktioniert, dann könnte es lediglich die Oberfläche des Meeres abschöpfen; der große Anteil Kunststoff in den tieferen Wasserschichten wäre weiterhin unerreichbar, ebenso wie die Myriaden winziger Plastikteilchen, die im Meer herumschwirren. Denn wollte man auch sie mit herausfiltern, dann stellt sich die Frage, was dabei eigentlich mit dem Plankton geschehe. Man würde es unweigerlich mit herausholen oder zumindest stark beeinträchtigen – und damit das gesamte Ökosystem Meer gefährden. Also was bleibt? Den Müll an den Stränden einsammeln, wie es vielerorts schon geschieht? Das ist teuer, aber unvermeidlich. Es macht die Meere zwar nicht wieder sauber, aber es macht sie zumindest ein wenig sauberer. Und vor allem hilft es dabei, zu verhindern, dass neuer Müll ins Meer gelangt. Denn das ist das Entscheidende, wie bei jedem Umweltthema: Nicht die (nachträgliche) Wiedergutmachung, die Schadensbegrenzung, wie sie die Niederländer verwirklichen würden, ist das Effektivste, sondern die (vorherige) Vorsorge, die Vermeidung. Die Bekämpfung des Müllproblems der Meere muss bereits an Land beginnen, hier müssen wir ansetzen! Denn sind die Kunststoffe erst einmal im Meer, dann sind sie nur sehr schwer wieder heraus zu bekommen. Vor allem all die kleinen Teile wird man wahrscheinlich nie mehr entfernen können – höchstens aus dem Leib toter Tiere.

 

Laut einer Anfang 2016 vorgestellten Studie enthalten die Ozeane schon heute hundertfünfzig Millionen Tonnen Kunststoffe. Auf nur drei Kilogramm Fisch kommt damit bereits ein ganzes Kilogramm Kunststoff! Jede Minute gelangt so viel Plastik ins Meer wie ein Lkw aufnehmen kann. Bildlich vorgestellt: Ein Lkw fährt an eine Rampe, kippt seine Ladung ins Meer, fährt davon. Eine Minute später kommt der nächste und tut dasselbe, wieder eine Minute später noch einer und so fort… Eine Vorstellung, bei der man schreien könnte! Und doch ist es so. Aber es geht sogar noch skurriler: Bis zum Jahr 2050 – also gar nicht mehr allzu lange hin – soll das Gesamtgewicht des Kunststoffs dasjenige aller Fische in der See überstiegen haben! Unglaublich, oder?

 

Genau deswegen ist es so wichtig, die riesige Menge von acht Millionen Tonnen, die jedes Jahr ins Meer gelangen, zu verringern. Jede weniger weggeworfene Plastiktüte, die in den nächsten Bach gelangen könnte, jede weniger zurück gelassene Getränkedose oder Kunststoffflasche am Fluss oder Strand ist wichtig. Wir sollten uns sehr gut überlegen, wo wir unseren Müll entsorgen. Denn irgendwann landet er mit großer Wahrscheinlichkeit einmal, atomisiert in Millionen winziger Stücke, in unseren Mägen.

[Auszug aus: Oliver M. Herchen: Des Menschen Erde (2017) S. 283 - 290, Quellenangaben zu den Sachverhalten dort]

OH Jan/2024

Toter Albatros, Mageninhalt

(gemeinfrei, Beschnitt.: OH)


Mehr zum Thema Plastikmüll und Ozeanverschmutzung:

[Externe Links, Hinweise]

Zustand der ozeane:

NGO's:

  • WWF (Internationale Umweltschutzorganisation)
  • Greenpeace (Internationale Umweltschutzorganisation)
  • OceanCare (Schweizer Meeresschutzorganisation)
  • TheOceanCleanUp (Non-Profit-Org. zur Säuberung der Meere)