#Tropenwald


gerodeter Regenwald am Amazonas

Die Artenvielfalt der tropischen Regenwälder

Auszug aus meinem Buch "Des Menschen Erde"

Anfang der 1980er Jahre schätzte man die Zahl der Arten auf der Erde auf etwa zwei bis drei Millionen. Diese Zahl ergab sich, indem man zu den anderthalb Millionen bekannten Arten noch eine weitere halbe bis anderthalb Millionen vermutlich unentdeckter hinzufügte. Doch dann begann man, die bisher unzugänglichen Baumkronen der Tropischen Regenwälder näher zu untersuchen. Der amerikanische Biologe Terry L. Erwin (*1940) entwickelte eine Methode, bei der er mit einer biologisch abbaubaren Chemikalie gezielt die Baumkronen einzelner Bäume einnebelte. Die dort lebenden Insekten, Spinnen und anderen wirbellosen Tiere wurden dadurch betäubt, fielen herunter und wurden von einer ausgebreiteten Plane aufgefangen. So fand er in Panama in einer einzigen Baumart (Luehea seemannii) 1.200 Käferarten. Er schätzte, dass davon 162 nur von dieser einen Baumart abhängig seien. Da Käfer nur etwa vierzig Prozent aller Gliederfüßer (Arthropoden; neben Käfern auch Insekten, Spinnen, Tausendfüßler, Krebstiere etc.) ausmachen und Erwin auch Insekten am Stamm fand, schätzte er die Zahl der Arthropodenarten auf diesem Baum auf sechshundert. Da man darüber hinaus von bis zu 50.000 verschiedenen Baumarten im tropischen Regenwald ausgeht, kam er auf eine Zahl von dreißig Millionen, die alleine dort beheimatet sein könnten. Diese Zahl erschien zunächst etwas hoch gegriffen, da die von Erwin untersuchte Baumart relativ häufig und auch groß ist und man deshalb nicht unbedingt davon ausgehen konnte, dass es auf jedem Baum eine solche Zahl abhängiger Arten gibt. Doch die Zahlen wurden später von anderen Forschern bestätigt. So stellte der Evolutionsbiologe Robert M. May (*1936) Ende der 1980er Jahre weitere umfangreiche Hochrechnungen an und kam auf eine Artenzahl zwischen zwanzig und achtzig Millionen, davon die überwiegende Mehrzahl Insekten und diese wiederum überwiegend in den Tropischen Regenwäldern.

 

Doch wie hoch die tatsächliche Zahl auch sein mag – wir werden sie wohl nie erfahren, weil niemand sich die Mühe machen wird, in den Baumkronen sämtlicher Baumarten nach sämtlichen Insekten und Käfern zu suchen, um diese anschließend wissenschaftlich zu beschreiben. Und selbst wenn er es wollte, wäre es ganz und gar unmöglich, selbst dann, wenn der Tropische Regenwald die nächsten Jahrzehnte unberührt bliebe. Im Grunde genommen spielt es auch keine große Rolle, ob es nun fünf, zehn oder gar fünfzig Millionen sind. Die beeindruckenden Zahlen verdeutlichen uns allerdings zweierlei: Erstens nämlich, dass der tatsächlichen Zahl der Arten auf der Erde nur mit mathematischen Hochrechnungen beizukommen ist und zweitens, dass vermutlich die deutlich überwiegende Zahl aller Landlebewesen in den Tropischen Regenwäldern zu Hause ist. Schätzungen reichen von mehr als der Hälfte bis hin zu neunzig Prozent.

 

Angesichts dieser Artenvielfalt könnte man nun erwarten, dass einem eine Masse an Tieren entgegenschlägt, sobald man den Tropischen Regenwald betritt. Viele Naturforscher, die im 19. Jahrhundert die Wälder Amazoniens oder Südostasiens erstmals bereisten, erwarteten das auch. Doch sie wurden sehr schnell eines Besseren belehrt, denn das Gegenteil ist der Fall: Die Tiere des Tropischen Regenwaldes sind relativ unsichtbar, man bekommt sie nicht gleich zu Gesicht. Gemessen an der gesamten Biomasse, die bei etwa tausend und mehr Tonnen pro Hektar liegt, ist der Anteil der Tiere mit nur etwa dreißig bis fünfunddreißig Kilogramm pro Hektar verschwindend gering. Von den tausend Tonnen Biomasse entfallen bereits achtundneunzig Prozent auf das Holz. Und selbst bezogen auf die verbleibende Blattmasse von zwanzig Tonnen je Hektar liegt der tierische Anteil bei winzigen 1,5 Promille. Tatsächlich kann man Monate oder gar Jahre in Amazonien verbringen, ohne auch nur einem einzigen Jaguar oder Puma zu begegnen.

 

Das Außergewöhnliche an den Tropischen Regenwäldern ist also alleine ihre Artenvielfalt. Es heißt, dass es dort leichter sei, zehn verschiedene Arten von Schmetterlingen zu finden als zehn von einer Art. In Peru wurden auf einem einzigen Hektar Wald zweihundert Baumarten gefunden. In ganz Deutschland gibt es nur sechsundsiebzig. Auf hundert Hektar kamen 230 verschiedene Vogelarten, mehr als in den meisten Bundesstaaten der USA. In einer einzigen Baumkrone fanden sich vierundfünfzig Ameisenarten – mehr als auf den gesamten britischen Inseln.

 

An den Insekten kann man das Phänomen am besten verdeutlichen: Auf der Insel Borneo hat man in zehn Bäumen 24.000 Gliedertiere gefunden. Darunter gab es 2.800 Arten, das heißt, auf eine Art kamen weniger als neun Tiere. 24.000 Individuen hören sich zunächst nach viel an, sind es aber nicht, wenn man bedenkt, dass dies vielleicht ein Tier je Blatt ist. In außertropischen Wäldern können Millionen von Insekten in nur einer Krone vorkommen, aber hier sind es dann eben nur wenige Arten, Blattläuse etwa oder Raupen einer Schmetterlingsart, die sich gerade stark vermehren. Auf Borneo waren es aber nicht fünf oder zehn Arten, die sich in den zehn Bäumen tummelten, sondern sage und schreibe 2.800! Doch wie ist es zu erklären, dass der Artenreichtum, also die Biodiversität, gerade in den Tropen so enorm hoch ist?

 

Für die Artenvielfalt der Tropischen Regenwälder gibt es zwei Hauptgründe. Der erste hört sich fast wie ein Widerspruch in sich an, ist er aber nicht. Der erste Grund für die Artenvielfalt ist das knappe Nährstoffangebot, das in den Tropen herrscht! Doch wie ist das zu erklären? Damit Arten überleben können, insbesondere solche, die auf einen bestimmten Stoff angewiesen sind, muss natürlich ein Mindestangebot an den Nährstoffen vorhanden sein, die sie benötigen. Der Umstand, dass es beispielsweise in Zen-tralamazonien keine Schnecken gibt, liegt darin begründet, dass das dort verfügbare Wasser zu wenig Kalk zum Bau ihrer Häuser enthält. Wenn es einen Mangel an Nährstoffen gibt, müssen sich die Arten notgedrungen darauf einstellen. Nährstoffmangel fördert gewissermaßen den evolutionären »Erfindergeist« und führt auf diese Weise zu einer großen Zahl von Problemlösungen.

 

Auf dieser Tatsache beruht das bereits 1828 von Carl Sprengel (1787 bis 1859) formulierte und später von Justus Liebig (1803 bis 1873) erweiterte und verbreitete »Minimumgesetz«. Es besagt, dass das Wachstum einer Pflanze abhängig ist von der knappsten zur Verfügung stehenden Ressource. Diese Erkenntnis war im 19. Jahrhundert die Grundlage der modernen Mineraldüngung, mit der man die Erträge in der Landwirtschaft erheblich steigern konnte, indem man die notwendigen Nährstoffe wohldosiert künstlich zuführte.

 

Die Artenzahl ist also niedrig, wenn nur sehr wenige Nährstoffe vorhanden sind, mit denen nur wenige Spezialisten auskommen. Mit verbessertem Angebot nimmt sie stark zu und erreicht schnell ihren Höhepunkt, bevor sie bei weiter steigendem Angebot wieder stark fällt. Grund dafür ist, dass dann die leistungsfähigsten Arten schnell die Oberhand gewinnen und die anderen verdrängen.

 

Ein weiterer Grund für die hohe Biodiversität in den Tropen ist der Überschuss an Strahlungsenergie der Sonne. Die Pflanzen setzen sie bei der Photosynthese in Kohlenhydrate um, allerdings ist der Nachschub an Energie so groß, dass die Produktion von einfachen Zuckern und Stärke nicht ausreicht, um sie gänzlich zu verarbeiten. Sie verwandeln die Kohlenhydrate deswegen weiter in eine unglaubliche Fülle von chemischen Verbindungen. Die Artenvielfalt ist deswegen auch das Resultat dieser chemischen Vielfalt, insbesondere bei den Insekten, weil diese als erstes die verschiedenen pflanzlichen Inhaltsstoffe verwerten.

 

Doch die Nährstoffarmut zwingt die Pflanzen auch dazu, mit diesen knappen, aber wichtigen Ressourcen, beispielsweise Phosphor und Kalium, besonders gut hauszuhalten. Sie müssen den Kreislauf am Leben erhalten und dafür sorgen, dass die Verluste möglichst gering bleiben. Auch dazu nutzen sie die chemische Vielfalt, nämlich beispielsweise zur Produktion von Giftstoffen, die Tiere davon abhalten sollen, ihre Blätter zu fressen. Dieses extreme Haushalten der Pflanzen mit den wenigen zur Verfügung stehenden Nährstoffen bedeutet aber auch, dass die Pflanzen kaum Spielraum für eine Nutzung, also etwa für eine Ernte ihrer Früchte, haben. Sie produzieren eben nur so viel, wie es für die Arterhaltung unbedingt notwendig ist. Die Säugetiere des Regenwaldes, die von den Pflanzen leben, haben sich in den Jahrmillionen der Evolution daran angepasst. Sie beanspruchen den Wald nämlich im Hinblick auf das Nahrungsangebot möglichst wenig, sei es durch eine geringe Körpergröße, durch eine geringere Leistungsfähigkeit oder durch eine niedrige Siedlungsdichte. So erklärt sich auch die geringe Masse der Tiere im Verhältnis zur gesamten Biomasse der Wälder.

 

Die Artenvielfalt ist aber nicht nur Ergebnis des Ökosystems Regenwald, sondern auch dessen Grundlage, beides bedingt sich einander. Denn dadurch, dass jede Pflanze und jedes Tier eine Nische besetzen, schaffen sie sich nicht nur selbst einen Lebensraum, sondern verhindern auch, dass eine Art zu stark wird und eine andere verdrängt. Was passiert, wenn man in dieses Gleichgewicht eingreift, mussten schon zahlreiche Bauern leidvoll erfahren: Pflanzt man nämlich zu viele Nutzpflanzen einer Art auf ehemaligem Regenwaldboden, dann finden plötzlich einige Insektenarten übermäßig Nahrung, vermehren sich schlagartig und werden zur Plage. Die agrarische Nutzung wird dann zu einem nur kurzen Vergnügen. Und da bei den Millionen verschiedener Insektenarten niemand sagen kann, wann, wo und bei welcher Pflanze eine von ihnen zuschlagen wird, kann man die nächste Plage auch nie wirklich ausschließen. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Die feuchten Tropen brauchen die Artenvielfalt um das Gleichgewicht des Ökosystems zu gewährleisten! Eine Kultivierung weniger Nutzpflanzenarten, wie sie in Europa oder Nordamerika praktiziert wird, funktioniert hier schlichtweg nicht, jedenfalls nicht auf Dauer.

 

Sie funktioniert auch nicht wegen den nährstoffarmen Böden, die hier vorherrschen. Wird der Wald abgeholzt, wird der wirksame Nährstoff-Kreislauf unterbrochen. Durch das Verschwinden des schützenden Blätterdachs und der den Boden stabilisierenden Wurzeln ist es zudem für die sintflutartigen Regenfälle der Tropen ein Leichtes, die dünne Humusschicht einfach wegzuschwemmen. Deswegen verwundert es auch nicht, dass die Erträge auf gerodeten Regenwaldflächen schon nach wenigen Jahren so rapide abnehmen, dass sich der Anbau schon bald nicht mehr lohnt. Man zieht weiter und holzt die nächste Fläche ab, so dass sich der Raubbau immer weiter in den Wald hinein frisst.

 

Doch was ist eigentlich das Wertvolle an der Artenvielfalt der Tropischen Regenwälder? Kann es uns im weit entfernten Europa nicht herzlich egal sein, ob auf irgendeinem der zahlreichen verschiedenen Tropenbaumarten nun fünf oder fünfzehn endemische Käferarten leben; ob eine Ameisenart nun eher schwarz oder rot gefärbt ist; ob eine Schmetterlingsart nun drei Baumarten oder derer fünf ihr Zuhause nennt; ob eine Spinne sich von diesem oder jenem Insekt ernährt? Sicher, es ist schade, wenn eine Art verschwindet und nie mehr wieder kommt. Vielleicht ist es auch ein Verbrechen gegenüber Gott oder der Evolution, für ihr Aussterben verantwortlich zu sein. Aber spielt es für unser Leben und für das Überleben der Menschheit eine Rolle? Was interessiert sie uns, die Vielfalt der Arten in den Tropen, wenn wir nicht gerade Ornithologen oder Entomologen sind?

 

Als Naturfreund oder Umweltschützer kann man diese Fragen empört zurückweisen, zielführend ist das jedoch nicht. Denn es geht ja darum, diejenigen für unsere Sache zu gewinnen, die diese Fragen stellen; in eine Diskussion mit ihnen einzutreten; ihnen die Informationen an die Hand zu geben, die sie benötigen, um die Sache objektiv beurteilen zu können. Eine Antwort zu finden, und zwar eine überzeugende, ist deshalb unerlässlich. Und die überzeugende Antwort findet man dann, wenn man sich überlegt, was Artenvielfalt überhaupt bedeutet.

 

Artenvielfalt bedeutet vor allem genetische Vielfalt. Das heißt, die Erbinformationen der unzähligen Arten sind die Schlüssel, die jede einzelne von ihnen für die Herausforderungen in der Umwelt benötigt; Schlüssel, die sich im Laufe des hart umkämpften, Jahrtausende und Jahrmillionen währenden evolutionären Wettbewerbs als tauglich erwiesen haben; Schlüssel, die die unzähligen Arten in die Lage versetzt haben, trotz Nährstoffmangels, trotz zahlloser Feinde, trotz Hitze, ständiger Gewitterschauer und vieler anderer Unwägbarkeiten, zu überleben. Das sind Millionen und Abermillionen von Rezepten und Problemlösungen, Millionen und Abermillionen von Überlebens-, Ernährungs- und Fortpflanzungsstrategien, die sich allesamt lohnen, erforscht zu werden. Viel lernen können wir dabei insbesondere von den indigenen Völkern, die seit Jahrtausenden im und von ihrem Wald leben und sich viele Dinge zunutze gemacht haben, von denen wir in unserer industrialisierten Welt gar keine Vorstellung haben. So wird das Chinin des Chinarindenbaums als Mittel gegen Malaria eingesetzt; es gibt Pilze, die sehr wirksame Antibiotika abscheiden; es gibt Lianen, die empfängnisverhütende Stoffe enthalten; Gürteltiere kann man mit Lepra infizieren, ohne dass sie daran erkranken; Reptilien besitzen Mechanismen, die sie sehr alt und ewig wachsen lassen; bestimmte Raupen haben Schutzstoffe entwickelt, die sie auf den Blättern der hochgiftigen Passionsblume überleben lassen; Kaffee und Tee sind nicht die einzigen koffeinhaltigen Pflanzen.

 

Es gibt Giftstoffe und Gegengifte, Früchte, Säfte, Farbstoffe, Mechanismen, Symbiosen, Oberflächenstrukturen und vieles andere mehr. Man könnte Tausende weitere Beispiele aufführen und es wäre doch nur ein klitzekleiner Ausschnitt dessen, was wirklich vorhanden ist. Das allermeiste davon ist völlig unbekannt. Der Regenwald ist ein riesengroßes Chemielabor, das die besten und umweltverträglichsten Stoffe entwickelt hat, die man sich denken kann und die zudem bereits jede Bewährungsprobe erfolgreich bestanden haben – sozusagen ein riesiges Archiv mit Millionen von Patenten. Wenn wir den Wald vernichten, geht diese Bibliothek mit seinen unglaublichen Schätzen für immer verloren. Das ist es, was uns am meisten Sorge bereiten muss.

 

Aber warum tun wir es trotzdem? Warum vernichten wir die Wälder dieser Erde und gerade die wertvollsten von ihnen zuvorderst? Warum vernichten wir sie mit dieser unglaublichen kriminellen Energie, die ihresgleichen sucht? Was haben sie uns getan, dass wir so mit ihnen umgehen?

[Auszug aus: Oliver M. Herchen: Des Menschen Erde (2017), S. 146 bis 153, Quellenangaben zu den Sachverhalten dort]

OH Jan/2024

 Amazonasregenwald,gerodet

(gemeinfrei, Beschnitt.: OH)


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